Der folgende Text enthält Passagen über Mord und Suizid. Passt auf euch auf.

Als ich das erste Mal an meinem angeblich männlichen Geschlecht zweifelte, war ich ungefähr dreizehn Jahre alt. Ich saß vor dem Familiencomputer und hörte einer trans Frau aus Australien dabei zu, wie sie auf Youtube ein wenig über ihr Transsein herumphilosophierte. Nennen wir sie Anna. Das ganze war natürlich auf Englisch. Ich verstand nicht jedes Wort und erst recht nicht jeden Satz (was auch teilweise an der Tonqualität dieser Ära von Youtube lag), aber etwas verstand ich zwischen all den halbverstandenen Wortfetzen ganz genau und auch erst zu diesem Zeitpunkt: Trans Frauen existieren. So richtig. Also in derselben Realität wie du!

Da war eine ganze Demographie von Menschen, über die ich bisher nur abfällig von jenen gehört hatte, die nicht zu ihr gehörten.

Und sie bestand aus Leuten wie dir und…
mir?

Irgendwann hörte sie auf, Videos zu posten. Schlagartig. Ich nahm einfach an, dass sie keine Lust mehr hatte, Youtube-Videos zu machen, mit meinem damaligen Verständnis von Englisch konnte ich auch keine anderen Gründe festmachen. Und überhaupt: Kanäle wurden andauernd aufgegeben. Von dem Schwarzen Mann, den ich monatelang geguckt hatte, kamen auch seit Wochen plötzlich keine rassismuskritischen Videos mehr, das musste wohl normal sein.

Ich weiß nicht, warum diese Anna auf Youtube aufgehört hat. Vielleicht hatte sie tatsächlich einfach keine Lust mehr. Als trans Frau, die selbst in sozialen Medien unterwegs ist, fallen mir allerdings auch unglücklichere Gründe ein.

Was ich weiß, ist, dass ihr Fehlen mich mehrere Jahre meiner Jugend gekostet hat.

Anna war in einer Welt, die mir konstant sagte, ich könne nicht so sein, wie ich nun einmal bin, die einzige Person, die mir das Gefühl gab, es sein zu können. Sie hatte dieses Gefühl nicht einmal selbst, wie ich später erfuhr, als ich fast ein Jahrzehnt später ihren Kanal wiederfand. Sie war völlig verunsichert, stellte als geoutete trans Frau genau dieselben Fragen, die ich mir damals als kleines Mädchen niemals erlaubt hatte, zu stellen. Und sie verzweifelte. Weil Anna selbst keine Anna hatte.

Was ich in dieser Frau sah, die selbst mein erster Kontakt zu meiner eigenen Identität gewesen war, war, was es anrichten konnte, niemals diese Erfahrung gemacht zu haben. Wie eine Welt ohne öffentliche trans Menschen aussah.

Als Anna verstummt war, blieben mir nicht mehr viele Informationsquellen. Ich konnte ihre Videos mehrfach ansehen – und das tat ich auch -, doch um den gesamten Inhalt zu verstehen, fehlte es mir an sprachlicher Übung. Ich gab regelmäßig „transgender“ in die Suchzeile ein, oder „gender change“ oder „mtf“, oder andere Begriffe, denen ich heute widersprechen würde, die damals aber alles waren, was ich hatte, meine einzige Nabelschnur zur Community. Ich las medizinische Informationen auf Seiten, die seit Mitte der Neunziger nicht mehr aktualisiert worden waren – oder zumindest so aussahen.

Aber irgendwann hatte das Internet nichts mehr für mich.

Irgendwann ging ich auf meine katholische Schule und hörte kein Gegennarrativ mehr.

Damit ging das Gefühl von Normalität weg, das Anna in mir geweckt hatte. Es blieb fast ein Jahrzehnt lang verschollen.

Als es zurück kam, war ich volljährig und stolperte auf Reddit auf eine Gemeinschaft von trans Menschen, die Witze über ihren Platz in der Welt machten. Konnte es sein…?

Der Subreddit hieß r/traaaaaaannnnnnnnnns und er existiert immer noch. Diese Gemeinschaft bestand aus tausenden von Annas. Und abertausenden von was auch immer das Äquivalent einer Anna für einen trans Mann ist. Oder ein Enby. Oder eine nicht-binäre Person, die kein Enby ist. Oder ein Demigirl, einen Demiboy, agender Leute, genderfluid, genderflux…

Sie schrieben und sie zeichneten und sie entwarfen und sie lachten. Sie taten es für sich, sie taten es für andere.

Sie machten ernsten Aktivismus oder schrieben sich nur ihre Sorgen von der Seele – und wussten nicht, dass sie gerade Aktivismus betrieben.

Es war da. Alles war da. Eine Woche, nachdem ich r/traa… gefunden hatte, erstellte ich bereits einen neuen Account mit neuem Vornamen: Ellie. Und es dauerte auch nicht lange, bis in mir all die Dineg hochkamen, die bereits bei Anna begonnen hatten, für mich zu vagen Bedürfnissen zu werden. Die medizinische Behandlung, die mir erlaubt haben, zu der zu werden, die ich heute bin – und das meine ich nicht nur physisch. Meinen klaren Kopf verdanke ich zu einem nicht geringen Teil der Tatsache, dass seit bald eineinhalb Jahren nicht mehr die für mich falschen Hormone in meinem Körper wirken. Das wäre ohne Anna und r/traa… nicht möglich gewesen. Auch nicht ohne die Präsens von trans Leuten auf Twitter, womit wir beim Anlass dieses Textes wären.

Wir können tagein, tagaus über die genauen Zahlen diskutieren. Was nicht abzustreiten ist, ist, dass die Suizidraten von besonders jungen trans Menschen sich enorm über denen dem cisgeschlechtlichen Rest der Bevölkerung absetzen, die Suizidversuchsraten noch viel mehr. Was auch nicht abzustreiten ist, ist, dass Akzeptanz in der Familie und im direkten sozialen Umfeld diese Raten sehr stark an die der cis Bevölkerung angzugleichen vermögen.

Ich frage euch: Wie hoch ist die Akzeptanz einer trans Person, die sich nicht als trans wahrnimmt, weil sie keine Rollenbilder hat?

Oder weil sie nur normschöne Rollenbilder aus der sozialen Oberschicht hat, die nicht nur jegliche medizinische Behandlung wollen, sondern sie sich auch problemlos leisten können?

Wir brauchen Rollenbilder für trans Menschen, die sich ihrer selbst noch nicht klargeworden sind. Gerade jetzt, wo mediale Großkonzerne und rechte Gruppierungen nach dem Beschluss der sogenannten „Ehe für alle“ von Homo- auf Transfeindlichkeit umschwenken, weil sie diesen Kulturkampf als noch unentschieden wahrnehmen. Gerade jetzt, wo akademisch wirkende transfeindliche Konzepte wie „Rapid Onset Gender Dysphoria“ in aus dem „Vereinigten“ Königreich nach Deutschland schwappen. Für meine Eltern war meine Geschlechts-ent-wicklung auch „unverhersehbar“, „rapide“ und welche anderen Begriffe gerade sonst noch in diesen Kreisen umherschwirren mögen. Weil der Abschnitt, der spätestens vor einem Jahrzehnt mit Anna begann, für sie unsichtbar ist (in meinem Fall: war).

Rollenbilder für trans Menschen verschwinden mit jedem Tag von der Bildfläche. Das ist kein Zufall. Rechtsextreme Gruppen – und jene, die es noch werden wollen – haben ein Interesse daran, dass wir in die alte Unsichtbarkeit zurückgehen. Sie wissen genauso gut wie wir, dass öffentliche trans Menschen auf Dauer nur zu weniger Transfeindlichkeit führen können und nicht zum Gegenteil. Und sie wissen auch, dass sie uns nicht selbst ermorden müssen, wenn wir alleine sind.

Wenn wir wollen, dass trans Menschen überleben – und noch mehr: LEBEN -, dann müssen wir die Voraussetzungen dafür schaffen. Dann müssen wir fördern und fordern, dass ihnen Plattformen geboten werden. Dann müssen wir ihnen den Raum geben, ihre Punkte selbst darzustellen (und selbst zu hören!), ihre Narrative selbst aktiv gestalten zu können und nicht nur Objekte der Erzählung und falschen Berichterstattung zu sein.

Wenn wir wollen, dass trans Menschen leben –
Dann müssen wir dafür kämpfen.

Author

Elena Schmidt, Lehramtsstudentin, ist in medienübergreifender trans* Auflärungsarbeit und Community Care tätig. Ihr könnt sie unter http://paypal.me/sehrlesbisch unterstützen.