Ich weiß gar nicht, wie oft ich das gesagt bekam von den reichen Leuten, während der Vernissage einer Gattin. Die Malschule in der norddeutschen Kleinstadt war gut besucht. Die Ergebnisse wurden in einem sehr schönen und sehr großen Haus einer inzwischen toten, ich sag mal Freundin ausgestellt. Das Patriziat und ausgewählte Projekte wie ich kam um gesehen zu werden, zwischen Aquarellteddybären für 350 DM – die Künstlerin ist auf das Geld nicht angewiesen, aber ein Dank ist natürlich ganz SCHÖN – und Etwassem in Acryl wird auf Teufel komm raus Kunst gewürdigt und der eine oder andere Brosamen protestantischer Fleißkultur diesem Mädchen hingeworfen.

Wenn die aufrechten Bürger nicht wissen, was sie mit Dir anfangen sollen, nehmen sie Dir als erstes Deinen Namen. Du bist dann „dieses Mädchen“. Dieses Mädchen, dessen Mutter gerade gestorben ist. Die Mutter kam ja aus einer guten Familie, da… Und nun das. Vor ein paar Tagen war ihr Vater über Nacht in der Ausnüchterungszelle. Das Auto stand ein paar Tage mitten auf der größten Kreuzung der Stadt. Alle haben es gesehen. Keine Ahnung, ob auch alle drüber gesprochen haben, ich vermute es aber. Präinternet war sowas willkommene Abwechslung.

Als ich mit 15 Jahren angefangen habe mit Kellnern, hatte ich schon das, was man eine Geschichte nennt. Auf die werde ich hier nicht eingehen. Es ist auch so genug Ereignis da. Gerade war meine Mutter gestorben, als ich dran war, ihr Gesellschaft zu leisten. Sie war schon ganz wächsern und gelb von der Chemo. Im Nebenzimmer schlief mein Vater seinen Rausch aus, meine Schwester, gerade fertig mit den schriftlichen Abi-Prüfungen, gab Nachhilfe und ich las „Das letzte Gefecht“ von Stephen King. Episch. Finde alles, was mit Stephen King zu tun hat seitdem zum Kotzen.

Eine Woche später in der Schule wusste schon niemand mehr, was man mir sagen könnte, also ignorierten sie mich sicherheitshalber.
Meine Schwester war die meiste Zeit bei ihrer besten Freundin, aß dort und übernachtete auch oft. Ich blieb zuhause wegen akutem Freundemangel – die anderen Geschichten, ihr erinnert euch.
Irgendwann war der Kühlschrank leer, alle Verwandten hatten einmal den obligatorischen Topf Suppe vorbeigebracht und fühlten sich von Inanspruchnahme der Hilfsangebote einfach überfordert. Man kennt es.
Ich habe einen Kellnerjob in einem Café bekommen. Geld gab es bar auf die Kralle. Alles höchst inoffiziell. Ich hätte eh noch gar nicht arbeiten dürfen. Sonntags kamen meine Mitschüler mit ihren Eltern um Kuchen zu holen. Ich war auf dem humanistischen Gymnasium und tatsächlich alle anderen Eltern waren Ärzte, Anwälte oder mindestens Beamte. Nicht zu vergessen die mit Reedereien und Fabriken. Keine arbeitslosen Eltern.

Nach ein paar Schichten entdeckte mein Chef tiefe Gefühle für mich. Er hat sogar bei meinem Vater um meine Hand angehalten 😅.
Also zum nächsten Job, den ich noch gar nicht machen durfte, in einer hippen neuen Bar. Cocktails und Longdrinks und eine extra Whiskeykarte, mehrere Fernseher an der Wand zeigten MTV und Fußball. Gott, haben das die coolen jüngeren und jünger gebliebenen Pseudointellektuellen geliebt da!
Ich hab’s auch sehr geliebt, begrapscht zu werden und mit dem Taxi heimfahren zu müssen, weil irgendein Arschloch vor der Tür auf mich gewartet hat um weiter zu reden. Vier Abende in der Woche, und wir hatten damals noch Samstagsunterricht.
Meanwhile war meine Schwester zum Studieren ausgezogen und mein Vater, um ihr Kindergeld gebracht, nahm Mieter ins Haus auf. Drei deutschrussische Musiker, die oft noch trinkend im Esszimmer saßen, wenn ich nachts nach Hause kam, und es lustig fanden, einfach so in mein Zimmer zu kommen. Kannst Dich aber auch nicht beschweren, wenn sie Dir direkt vorher geholfen hatten, Deinen vollgepissten und -trunkenen Vater ins Bett zu tragen, ne?
Es brauchte aber erst den Tag, an dem mein Vater sich umbringen wollte mit einer luftgefüllten Spritze. Er rannte mit dieser Spritze in der Armbeuge durch die Straßen am Stadtrand, um nicht aufgehalten zu werden. Ich schreiend hinterher.
Da traf ich den Entschluss, auszuziehen. Mit 17.
Nach einer Woche Couchsurfing fand ich eine Wohnung. Die Dusche war im einzigen Wohnraum, Klo und Pantryküche im Flur. Es gab aber Kabelanschluss!
Als minderjährige Schülerin hätte ich Anspruch auf Schülerbafög ohne Rückzahlung gehabt. Das hätte eine Unterschrift meines Vaters erfordert, die nicht zu kriegen war. Es wurde dann schwierig, weil meine Situation irgendwie nicht behördlich so vorgesehen war. Ich musste jeden Tag nach der Schule beim Sozialamt vorstellig werden, bis sich da auf Bezug geeinigt wurde. Als Darlehen. Wie die sich das vorgestellt haben, ist mir bis heute nicht klar.

Jeden Monat tanzte ich mit dem Antrag für den kommenden Monat an. Die Sachbearbeiterin erwähnte schon beim zweiten Termin, wie viele von den anderen Sozis Interesse an mir bekundet hätten. Es gäbe da einen regelrechten Heiratsmarkt. Zwinker. Zwei, drei Monate später meinte sie, ich müsste nicht so zurückhaltend sein, schließlich wäre ich auch nur ein Sozi und die hätten alle viel Zeit für mich. Kein Zwinkern.

Also, ja. Reichen geht es auch schlecht. Ich habe da echt gute Kenntnisse, weil sie es mir bei jeder Gelegenheit erzählt haben wie schlecht es ihnen geht. Bei Vernissagen, am Tresen in der Bar, oder wenn sie mir bei Parties diskret am Arsch rumfummelten, weil sie ne Kippe hatten springen lassen. Geld hat mir aber keiner gegeben. Das allein macht ja schließlich auch nicht glücklich.
Wie viel von dem, was ich in der Zeit erlebt habe, wäre mir auch widerfahren, wenn es genug Geld zum Leben gegeben hätte? Ohne die ständige existenzielle Bedrohung, die jede Entscheidung – meine eigenen, aber auch die von anderen – geprägt hat?
Und wie viel leichter wäre alles danach gewesen? Vielleicht hätte ich Teller waschen sollen, statt sie rumzutragen.

Ich habe viel weggelassen, ist ja keine Therapie hier, aber so schwarz auf weiß liest es sich wie ein ganz schön krasser Brocken. Früher war doch alles schlimm.

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Wesen mit Humor, Katzen und einer Extraportion Hass (aber dem guten, den wir brauchen)